Dekantieren für Fortgeschrittene

Jeder Weinliebhaber stolpert irgendwann über diesen Begriff, der mit dem Servieren zu tun hat: Dekantieren. Wir schauen einem Sommelier-Weltmeister über die Schulter, um zu erfahren, wie das geht und was genau der Unterschied zum Karaffieren ist.

Sommelier Marc Almert dekantiert. Vor ihm am Tisch sitzen acht gestrengen Juroren, die jeden seiner Handgriffe kritisch beäugen. Der Saal dahinter ist gefüllt mit neugierigem Publikum, dass den drei Finalisten live dabei zuschaut, wer denn nun Sommelier-Weltmeister 2019 wird. Die Aufgabe von Marc Almert, dem letzten Teilnehmer, ist es, eine Flasche des spanischen Weins Vega Sicilia zu dekantieren. Seine Zeit: sechs Minuten. Seine Herausforderung: Es handelt sich um einen gereiften Rotwein. Also muss er diesen vor Genuss umfüllen. Denn nur so kann er gewährleisten, dass er den Juroren reinen Wein einschenkt. Also frei von Ablagerungen - auch Depot genannt -, die sich im Laufe der langen Flaschenreife auf den Boden gesenkt haben.

Zum Dekantieren holt der Finalist einen kleinen Servierwagen mit nützlichen Utensilien. Darauf befinden sich neben dem Rotwein ein schlankes Glasgefäß sowie eine ungefähr 20 Zentimeter lange Spitzkerze. Mit einem Griff in die Jackettasche holt Marc Almert Streichhölzer heraus und entzündet die Kerze. Fachmännisch öffnet er die Flasche mit einem Kellnermesser, säubert ihren Hals mit einer Stoffserviette, riecht prüfend am Korken und verkostet den Wein. Dann greift er sich die Weinflasche, aus der er den Rotwein sanft in das Glasgefäß fließen lässt, das er dazu schräg hält.

Das Besondere: Er macht das in der Nähe der Kerzenflamme. So kann er im Inneren erkennen, wann das Depot gen Flaschenhals rutscht und dann aufhören, zu gießen. Der Rotwein ist nun ohne Trübstoffe und perfekt für die Juroren. Punktgenau schenkt Marc Almert dann auch ein, während er weitere Fragen beantwortet, immer mit der ablaufenden Zeit im Nacken. Weil Marc Almert nicht nur formvollendet dekantiert, sondern auch alle anderen Aufgaben wie die extrem herausfordernden Blindverkostungen bravourös gemeistert hat, ist er 2019 Sommelier-Weltmeister geworden.

Dekantieren und Karaffieren auf einen Blick

Wenn Sie sich jetzt fragen, ob Sie zum Dekantieren Ihrer alten Rotweine auch immer eine Kerze brauchen, können wir Sie beruhigen. Das geht genauso gut mit einer anderen Lichtquelle. Hauptsache, Sie können den Wein in der Flasche erkennen. Dekantieren sollten Sie in der Regel alle Rotweine, die zehn Jahre oder älter sind, von Rebsorten, die viel Tannin haben. Also etwa Weine aus dem Médoc im Bordeaux und der Rioja, italienischen Barolo und Brunello di Montalcino, kalifornische Cabernet Sauvignon und Portweine. Selbst einige Weißweine - egal ob jung oder alt - können davon profitieren. Zwar finden sich bei ihnen keine Tannine oder Farbablagerungen auf dem Boden. Mitunter jedoch Weinstein, ein harmloses, kristallähnliches Sediment, das Sie auch dekantieren können, falls es Sie im Glas stört.

Bis hierhin haben wir nur von schmalen Glasgefäßen gesprochen, und nicht von solchen mit breitem Boden. Denn diese bauchigen Varianten nutzt man für ein ähnliches, aber anderes Verfahren: das Karaffieren. Absurderweise nennt man die Variante zum Dekantieren Karaffe. Und - richtig geraten -, die Version zum Karaffieren heißt dann Dekanter. Damit sind wir mittendrin im Nerd-Thema.

Schauen wir uns jetzt den Unterschied an. Die zwei Formen dienen zwei verschiedenen Zwecken. Dabei ist das Volumen immens wichtig. Sollen gereifte Preziosen von ihren Sedimenten getrennt werden, ist eine schmale Karaffe ausreichend. Denn tatsächlich soll die Oberfläche bei einem sehr alten Rotwein nicht unnötig vergrößert werden. Das könnte dazu führen, dass der Wein an Aroma verliert, quasi umkippt. Hingegen ist ein großes Volumen für das Karaffieren von jungen Weinen absolut erwünscht.

Karaffieren für Fortgeschrittene

Die Weine erhalten dadurch eine Art Turbo-Sauerstoff-Kur. Je bauchiger das Behältnis, desto größer ist die Oberfläche des Weins, die dann mit Sauerstoff in Kontakt kommt. Dieser sorgt dafür, dass die Tannine abgemildert werden und sich die Aromen verbessern. Vor allem die Fruchtaromen können Sie dann deutlich besser wahrnehmen. Ideal also, wenn Sie endlich Ihren Barolo aus dem Piemont genießen möchten, der eigentlich noch ein paar Jahre liegen könnte. Oder den Shiraz aus dem Barossa Valley, den Sie zum Geburtstag geschenkt bekommen haben. Denn so gut wie diese Weine schmecken, warten Sie doch, jung getrunken, alle mit ordentlich kratzigem Tannin auf. Selbst einige junge Weißweine, wie etwa ein lagerfähiges Riesling Großes Gewächs, können davon profitieren. Auch hier verschafft der Weg des Belüftens über einen sauberen Dekanter einen Aromenboost! Das können Sie - je nach Wein - ruhig ein bis zwei Stunden machen, bevor Sie ihn mit Ihren Gästen teilen.

Natürlich darf bei einem Nerd-Thema der Expertenstreit nicht fehlen. Es gibt es auch Gegenstimmen, die der Meinung sind, Karaffieren wäre sinnlos. Sie argumentieren, dass der so hinzugefügte Sauerstoff die Aromen im Wein abschwächen würde. Dazu können wir nur sagen: Finden Sie einfach heraus, was Ihnen gefällt. Füllen Sie zum Beispiel mal einen jungen Bordeaux in einen Dekanter um, nehmen Sie einen ersten Schluck und probieren Sie nach einer Stunde erneut. Finden Sie den Wein angenehmer im Geschmack? Wenn er Ihnen jetzt schmeckt: ab ins Glas. Oder Sie lassen Sie den Wein noch etwas weiter in dem Dekanter und probieren eine halbe Stunde bis Stunde später erneut. So tasten Sie sich ran an Ihre persönliche Lieblingsvariante.